Julia berichtet von der Abu Dhabi International Book Fair.

Ich hatte gelesen, dass die Araber nicht lesen. Wozu brauchen die denn dann eigentlich so viele Buchmessen? Na, damit die Verlage ihre Bücher verkaufen können. Es gibt ja eigentlich kein Distributionssystem in der arabischen Welt. Aha. Dann sind die wohl viel digital unterwegs? Nö, es gibt noch kein richtiges ePub-Format in Arabisch. Bitte?! Die Leute lesen nicht, es gibt keinen Vertrieb, die leben hinterm Mond, ja, was machen die denn eigentlich?

Um aus der Perspektive Abu Dhabis zu antworten: Sie versuchen es.

In meiner zweiten Woche habe ich einem amerikanischen Verleger die Gagosian-Ausstellung RSTW auf Saadiyat Island gezeigt und gesagt: „Schau’s dir an, wie man mit Öl plötzlich Kunst aus dem Boden stampfen kann.“ Auf Saadiyat Island werden in den nächsten Jahren Weltklasse-Museen entstehen, erbaut von „weltbesten“ Architekten, kuratiert von „weltintellektuellen“ Kuratoren. Internationale Kunstbuchverlage schlagen sich bereits jetzt um die Ausstellungskataloge. Der Verleger war klüger als ich – und sagte, man müsse eben irgendwie beginnen, auch wenn die erste Generation vielleicht Blödsinn produzieren wird. Und natürlich ist es unfair, zu behaupten, das wunderschöne Jean-Nouvel-Milliardenprojekt habe nichts mit ernstzunehmender Kunst zu tun, da sind tatsächlich hochprofessionelle Menschen am Werk. Es ist ein Anfang.

Aber es wird dauern.

Wo vor 40 Jahren noch nichts war, kann trotz oder wegen des Geldes über Nacht kein Sinn für Ästhetik, geschweige denn eine kulturelle Landschaft entstehen. Wow! Das hört sich arrogant und eurozentristisch an. Man muss sich aber Folgendes vergegenwärtigen: In den Emiraten leben 80% Ausländer. Darunter vor allem Europäer, Amerikaner, Pakistani, Inder und Filipinos. Es ist in der Tat nur eine kleine Schicht von 20%, die am 2. Dezember den National Day feiert. Alle anderen stehen drum herum, können nicht mitfeiern, weil es nichts zu feiern gibt, denn zugehörig fühlt sich keiner der Ausländer. Grund und Boden zu besitzen oder seine Rentenjahre hier zu verbringen, ist so gut wie unmöglich. Dennoch prägen diese Menschen das Land durch ihre westliche oder asiatische Kultur, ihre Traditionen oder ihr Wissen, so wie Ausländer es überall tun. Zum zweiten sind Abu Dhabi und Dubai innerhalb von einer Generation, quasi im Düsenflieger mit Lichtgeschwindigkeit, wirtschaftlich und technisch zumindest, ins 21. Jahrhundert katapultiert worden. Niemand, der das erste Mal in seinem kleinen Auto an der Skyline von Dubai entlang fährt, würde das abstreiten. Aber der Flug war ohne Halt und man hatte nur wenig Zeit für Reflexion, denn anders als im Westen, wo ein wirtschaftliches oder technisches Ziel nicht im Vorfeld bekannt war, eher prozessartig verlief, wusste man hier sofort, wo man hinwollte: den größten Skyscraper, den teuersten Weihnachtsbaum, die abgefahrenste Palme. Willkommen in den Städten der kapitalistischen Superlative, besser, schneller und höher als der Westen. So, und nun der letzte Gedanke, der alles bisher Gesagte zerspringen lassen könnte: Wir leben hier in einem streng muslimischen Land. Als ich zu Weihnachten kurz in Deutschland war, zuckte ich zusammen, starrte und zählte ganze drei Sekunden, als sich ein Pärchen direkt neben mir, in der Öffentlichkeit, küsste. Ich brauchte ein paar Tage, um mit diesem Schock umzugehen und zu verstehen, dass das in meinem Land ganz normal ist.

Taken this into account – zurück zur Buchmesse: Es stimmt, dass das Vertriebssystem rudimentär ist, es ist auch wahr, dass es mich oft erschreckt hat, wie wenig die Emiratis an Büchern interessiert sind, und ja, das ePub-Format auf Arabisch muss noch ausgebaut werden. Aber noch mal: „Givethem a break!“ Die Artikel, die ich bisher in den deutschen Medien über die Messe gelesen habe, reden von Zensur und keiner intellektuellen Stellungnahme. Die arabische Welt sieht sich mit noch nie gekannten, politischen Umbrüchen konfrontiert und auf einer Abu Dhabi International Book Fair wird das verschwiegen. Ich gebe zu, dass die Messe, so gesehen, langweilig war (auch wenn die Journalisten dann einige Lesungen offenbar verpasst haben). Das wäre in Frankfurt oder Leipzig anders. Aber die, die da schreiben, machen einen Fehler – die setzten ihre westliche Brille auf, nur weil hier alles so westlich aussieht. Meine Damen und Herren, das ist zu schnell geurteilt. Die Tatsache, dass es diese Unruhen gibt, zeigt, dass man offenbar (noch) nicht ohne vorgehaltene Hand reden kann. An eine arabische Buchmesse werden (noch) ganz andere Anforderungen gestellt, denn es ist in erster Linie eine Verkaufs- und Publikumsmesse, immer mehr werden auch Lizenzen ein- bzw. verkauft, und es muss in den kommenden Jahren noch mehr eine Bildungsmesse werden. Vielleicht kann man westliche Technik verpflanzen, Kultur, Bildung, Tradition sträuben sich hartnäckiger dagegen, und die Emiratis haben ein großes Stück Arbeit vor sich, ihr Bildungssystem zu überdenken, ihre Vergangenheit als Teil ihrer Identität anzuerkennen, ihre eigenen Werte zu definieren, gesellschaftliche Diskussionen zuzulassen und ihren Platz zunächst einmal in der arabischen Welt zu finden.

Kein Plädoyer für das Land, aber, es ist ein Land, das versucht. Es will nicht nur wirtschaftlich und technisch innovativ und modern sein, sondern mit aller Macht auch kulturell. Ich hoffe sehr, dass es die Kultur in Zukunft schafft, von unten zu kommen. Und nicht nur von oben mit viel Öl.

Die Buchmesse ist Teil eines großen Projektes. Ein Anfang.

Julia Strysio
Corporate Strategy & Programme Manager
Abu Dhabi International Book Fair 2011