Unsere Gegenwart ist von multiplen Krisen geprägt und scheint immer komplexer zu werden. Inwieweit wird Gegenwartsliteratur davon geprägt und wie kann sie darauf reagieren? Das wurde am Buchmesse-Freitag auf der Bühne des Zentrum Wort diskutiert.

Von Stefan Katzenbach

Wie kann Literatur auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren? Und ist die Wirklichkeit aufgrund ihrer Komplexität durch literarische Texte überhaupt noch zu erfassen – vor allem angesichts der sich Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten Vorstellung, dass Sprache die Wirklichkeit gar nicht gänzlich wiedergeben könne, sondern nur Metaphern der Dinge produziere? Dies wollte Moderator Jan Wiele, FAZ-Journalist, zu Beginn der Runde wissen. Katrin Röggla, Autorin und Wortmeldungen-Preisträgerin 2020 mit ihrem Text Bauernkriegspanorama, der den NSU-Prozess beleuchtet, hat eine ganz besondere Methode, um gesellschaftliche Komplexität in ihren Texten darzustellen: „Komik ist zum Beispiel ein Mittel der Komplexitätsdarstellung“, so Röggla, die nichts von abstrakten Darstellungen hält. „Komplexität soll fasslich werden, sinnlich werden.“  Das Gefühl, dass es unmöglich sei, diese Komplexität sprachlich darzustellen, habe sie auch immer wieder gehabt, aber es sei für sie auch ein Antrieb im Schreiben, dagegen anzukämpfen. Josephine Soppa sieht das ganz ähnlich. Die Schriftstellerin ist mit ihrem Essay Klick Klack, der Bergfrau erwacht aktuelle Wortmeldungen-Preisträgerin. Für sie ist Komplexität sogar die Bedingung der Möglichkeit des Schreibens: „Verzweifeln an der Wirklichkeit ist für mich Anlass zum Schreiben und auch der Anfang meines Wortmeldungen-Textes.“ Dieser frage nach „neuen Formen der Sprache, wenn die alte krank wird“.

Literatur als Medium für Gesellschaftskritik

In Bezug auf die gesellschaftspolitische Wirkung der Literatur sieht sich Katrin Röggla durchaus als „engagierte“ Literatin, so ihre Antwort auf die Frage von Jan Wiele. Zwar nicht im Sinne der 1950er-Jahre, als dieser Begriff, geprägt von Jean-Paul Sartre, eine Literatur bezeichnete, die direkt in die Wirklichkeit eingreift und deren Ziel es ist, politische Veränderung zu bewirken. Allerdings wolle sie mit ihrem Text Bauernkriegspanorama „verstehen, wie die Gesellschaft auf den NSU reagiert“. Bei dieser Thematik gehe es um „Spracherwerb und Verlust“, dies sei ein „sozialer Prozess“ und habe „mit Gesellschaft zu tun“. Diese Erkenntnis sei essenziell: Sprache sei „kein neutraler Raum“, sondern „ständiger Aushandlungsprozess, schon im Spracherwerb“. Auch Frank Witzel sieht sich als „engagierter Literat“, das Engagement sei Grundlage seines Schreibens. Allerdings versuche er dabei stets Maß zu halten: Im „Überengagement“ treffe man nicht den richtigen Ton.

Josephine Soppas Werke sind ebenfalls stets in Verbindung zu gesellschaftlichen Themen zu denken. In ihrem Roman Mirmar werde „viel prekäre Arbeit und Systemkritik“, verhandelt, sagte sie. Literatur sei dafür ein passendes Medium: „Im Schreiben kann ich etwas anklagen. Die Sätze sollen engagiert sein, ich will Politisches in den Sätzen finden und transformieren.“  Dabei gehe es oft um KI, Arbeits- und Ausbeutungsprozesse. Das sei „das Politische in den Sätzen“, die „von politischen Missverhältnissen“ zeugen. In dieser Darstellung rücke auch die Stellung der Autorin in den Blick: „Was ist die Herkunft dieser und meiner Sprache, aus welcher Position spreche ich?“

Das Ich in der Literatur

Daran anknüpfend wurde nach dem politischen Potenzial des Erzählens gefragt: „Gibt es ein demokratisches Erzählen?“ Und wenn ja, wie verhält sich die Perspektive des Ich dazu?“, wollte Jan Wiele wissen. Für Frank Witzel besteht das demokratische Erzählen in der Multiperspektivität und der Brechung der reinen Ich-Perspektive: „Meine Arbeiten beinhalten immer Perspektivwechsel. Ich habe die Hoffnung auf ein multiperspektivisches Ich. Ein Ich, das immer leicht variiert.“

Mit der Perspektive des Ich sei auch immer die Erwartung verbunden, dass das Erzählte real und authentisch sei. Für Katrin Röggla eine problematische Vorstellung: „Das Ich ist inszeniert, Authentizität auch. Jede Person, die über Liebeskummer schreibt, merkt das. Allerdings findet aktuell eine Rückentwicklung statt, und es wird behauptet, dass man uninszeniert schreiben kann.“ Welche Rolle die Debatte um Authentizität spielt, zeigte Röggla am Beispiels ihres Textes über den NSU-Prozess: „Die Frage nach dem Stoff und dem Umgang damit ist sehr wichtig. Einerseits inszeniere ich, aber andererseits habe ich damit auch Skrupel. Beim NSU-Prozess wollten Angehörige nicht mit mir sprechen. Im Namen von Ihnen zu schreiben wäre nicht angemessen.“

„Wir schreiben nicht im luftleeren Raum“

Und inwiefern prägen gesellschaftliche Entwicklungen das literarische Schreiben? Gibt es aktuelle Themen, die das Sujet des Schreibens bestimmen? „Wir schreiben zwar Fiktion, aber wir schreiben nicht im luftleeren Raum. Natürlich sind wir beeinflusst von gesellschaftlichen Themen“, so Frank Witzel. Er selbst brauche diesen Prozess auch, um selbst einen Reiz zum Schreiben zu haben.

Welchen Einfluss gesellschaftliche Themen aktuell auf ihre Arbeit haben, machte Katrin Röggla an ihrem Messe-Terminkalender deutlich: „Ich habe mehr politische als literarische Termine. Es ist eine herausfordernde Zeit durch die Faschisierung. Bürgerliche Menschen sagen erschreckende Dinge, das ist herausfordernd und stellt alles infrage. Die Messe und Verlage sehen vielleicht in zehn Jahren anders aus.“

Gleichzeitig gab sie auch ein Beispiel, wie literarische Methoden außerhalb der Literatur genutzt werden könnten: Man könne untersuchen, wie „Parteiprogramme literarisch funktionieren. Das Narrativ des Untergangs ist dort sehr stark vertreten – das Ist problematisch.“ Hier und im Allgemeinen müsse reflektiert werden, „welche Geschichten wir im Sprechen über die Welt erzählen.“