Literarische Öffentlichkeiten sind im Umbruch. Neben der etablierten Literaturkritik in den Feuilletons sind soziale Medien mittlerweile fester Bestandteil, insbesondere BookTok. Am Buchmesse-Donnerstag wurde bei der Veranstaltung „Nach der Kritik – neue literarische Öffentlichkeiten und ihre Kriterien“ darüber diskutiert, wie sich Literaturkritik verändert hat und wie Feuilletons damit umgehen sollen.

Von Stefan Katzenbach

Zur veränderten Form der Literaturrezeption in Bezug auf junge Lesende konstatierte Moderatorin Marie Schmidt, Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung, zu Beginn der Diskussion: „Vor New-Adult- und Romance-Ständen gibt es lange Schlangen und bekannte Schriftsteller:innen können unerkannt daneben stehen.“ Dies führte sie zur Frage: „Ist der Beruf des Literaturkritikers mittlerweile obsolet?“

Miryam Schellbach, Programmleiterin des Claassen Verlags, störte sich etwas an der Darstellung: „Diese Beschreibung ist sehr normativ. Hier wird es so dargestellt, als ob der Bestsellerautor von der Stilgemeinschaft ignoriert wird, weil sie sich für Anderes interessiert. Die Frage ist aber: Hat sich die Stilgemeinschaft erst gebildet oder hat sie sich von der Hochliteratur entfernt?“ Abgesehen davon rette diese Leserschaft gerade den Buchmarkt. Prof. Dr. Erika Thomalla, Juniorprofessorin für Buchwissenschaft an der LMU München, sieht in dieser Entwicklung auch eine Bewegung seitens des Buchmarkts. Dieser habe sich dem Segment Fantasy, Romance und Dark Romance, das auf BookTok besprochen werde, stark geöffnet. Vor zwanzig Jahren sei Genreliteratur noch kein Thema gewesen. Durch die gestiegene Reichweite und Bedeutung sei auch ein wechselseitiges Interesse an diesen Literatur- und Rezeptionsformen und dem klassischen Feuilleton entstanden.

Jan Wiele, Redakteur bei der FAZ, sieht das nicht so: „Es gibt kein gegenseitiges Interesse, nur einen von Klickzahlen getriebenen Journalismus.“ In Bezug auf literarische Qualität müsse er sich dafür nicht interessieren, die Romane seien handwerklich schlecht gemacht; dies solle die hauptsächliche Auseinandersetzung der Kritik sein und nicht das Phänomen.

BookTok ist marktrelevant und entwickelt Formen literarischer Kritik

Für Miryam Schellbach greift das zu kurz, sie verwies auf die Geschichte und Bedeutung der Kritik, die immer auch die Aufgabe gehabt habe, sich für Phänomene zu interessieren. Marie Schmidt warf das Argument der Marktrelevanz ein, die auch innerhalb des Segments gesehen und mittlerweile selbstbewusst vertreten werde. Zumal die Follower:innenzahlen bekannter BookToker:innen mittlerweile höher seien als die Leser:innenzahlen der etablierten Feuilletons.

Erika Thomalla verwies darauf, dass innerhalb der BookTok-Szene mittlerweile auch über Qualitätskriterien für Literatur diskutiert werde: „Da bilden sich eigene Formen der Expertise aus, eine hohe Kenntnis sprachlicher Mittel und des Kanons. Das ist nicht so banal, wie es dargestellt wird.“

Den von Jan Wiele propagierten „Medienverfall“ durch BookTok wollte die Runde nicht sehen, Miryam Schellbach verwies auf unterschiedliche Strukturen: „Eine Kultur ersetzt nicht die andere“. Die finanziellen und räumlichen Kürzungen in den Feuilletons seien nicht die Schuld von BookTok.

Weit verbreitete Bücher sollten Sichtbarkeit bekommen

Dennoch blieb die Frage, wie man mit neu entstandenen Buchsegmenten umgehen soll. Sollen diese Bücher auch in Feuilletons besprochen werden? Gerade auch vor dem Hintergrund, den Miryam Schellbach ins Spiel brachte: 16–29-Jährige, die Hauptzielgruppe von New Romance, lese bspw. die FAZ überhaupt nicht. Schellbach selbst hat dazu eine klare Meinung: „Bücher, die viele Menschen, insbesondere junge Frauen beschäftigen, sollen in der Tageszeitung besprochen werden.“

Wie aber junge Leser:innen fürs klassische Feuilleton begeistern? Erika Thomalla verwies auf die Relevanz der Lesesozialisation. Es sei wichtig, dass sich Leute mit komplexen Texten beschäftigten. Die Chancen, dass sich junge Leser:innen auch mit den in Feuilletons dargestellten Büchern beschäftigten, sei gegeben: „Es gibt eine Lust daran, den Kanon neu zu formieren. Kriterien über gute Literatur sind in der Diskussion.“ Auch Schellbach äußerte sich entsprechend: „Marlen Haushofer und Franz Kafka werden auf BookTok rezipiert. Vielleicht sehen wir komplexe Inhalte durch Algorithmen nur nicht.“