„Hesse ist ein Topstar auf Wattpad“
Von Stefan Katzenbach
Durch die Digitalisierung wird anders gelesen als früher. Das zeigt sich insbesondere bei den 14- bis 29-Jährigen, für die das Digitale selbstverständlicher Bestandteil des Lesens ist. Aber wie unterscheiden sich digitales und analoges Lesen und welchen Einfluss hat das auf die Wahrnehmung von Literatur? Das wurde am Freitag der Leipziger Buchmesse bei der Veranstaltung „New Adult und digital lesen“ diskutiert.
Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 29 Jahren sind die Zielgruppe mit dem aktuell stärksten Wachstum in der Buchbranche. Doch wie lesen sie? Diese Frage stand am Anfang der Diskussion, die Sven Stollfuß, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften der Uni Leipzig moderierte. „Es wird quantitativ mehr gelesen, aber bedeutet das auch qualitativeres Lesen? Schließlich fordert das Smartphone weniger?“, wollte er wissen.
Jugend liest intensiv und zelebriert es als Lebensstil
„Die Verflachung der Jugend ist ein Topos, es gibt keinen Beleg für nur oberflächliches Lesen“, so Gerhard Lauer. Er ist Professor für Buchwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Schwerpunkten empirische Leseforschung und digitale Buchwissenschaft. Das werde auch an der Art der Lektüre deutlich. Lauer nannte ein Beispiel: „Jungs lesen George Martin (ein US-amerikanischer Science-Fiction-, Fantasy- und Horror-Schriftsteller, Anmerk. d. Red.), das sind dicke Bücher, die kann man nicht nebenher lesen. Die, für die Lesen relevant ist, die lesen auch intensiv.“ Lesen werde zum Fanverhalten und es entstünden „Bookaholics“, die das Lesen als Lebensstil zelebrieren würden, inspiriert von der Community auf Social Media.
Auch Anke Vogel, Doktorin für Buchwissenschaft, ebenfalls an der Uni Mainz, sieht keinen Beleg, dass durch die Struktur und die Art der Kommunikation auf Social Media oberflächlicher gelesen wird: „Digital muss nicht oberflächlich sein.“ Außerdem sei in diesen Buch-Communities die „Materialität des Buches weiterhin wichtig“. Das habe auch damit zu tun, dass Lesen als Ausdruck eines Lebensstils verstanden wird, beispielsweise als „bewusster Akt des Rückzugs“ in die fiktive Welt der Bücher: „Eskapismus funktioniert besser bei gedruckten Büchern.“
Historische Vorbilder und Austausch über die eigenen Lebensentwürfe
Für Gerhard Lauer zeigen sich in dieser Ausrichtung des eigenen Lebens an literarischen Communities Anklänge an historische Vorbilder: „Diese Lebensstilinszenierung ist historisch, das gab es zum Beispiel bei Werther. Ein weiteres Beispiel sei die Entstehung von Lyrikvereinen in Leipzig um 1900. Eventuell seien durch die Orientierung persönlicher Lebensstile an der Literatur sogar gesellschaftliche Veränderungen möglich.
Diskutiert wurde allerdings auch, inwieweit diese Buch-Communities „geschlossene Gesellschaften“ seien, die sich nur innerhalb ihrer eigenen Diskussionskultur bewegten und nicht empfänglich für äußere Einflüsse sein. Diese Gefahr sieht Anke Vogel aus ihrer Erfahrung eher nicht: „Das ist mehr als Fan-Sein und ein bloßer Prozess der Identifikation. Da findet ein Austausch über Lebensentwürfe statt und eine Diskussion über das Buch, durch die man es nochmal aus anderen Perspektiven sehen kann.“
Wattpad als Ort hochkultureller Lektüre
Inwieweit die Ausbildung der sozialen Dimension des Lesens in Buch-Communities auch problematisch sein kann, beispielsweise durch steigenden Druck immer neue Bücher zu kaufen, und wie man mit oberflächlichen oder problematischen Inhalten umgehe, etwa im Bereich New Adult, wurde zum Abschluss der Diskussion noch einmal thematisiert. „Das ist eine Kritik, über die man sprechen kann“, findet auch Josi Wismar. Natürlich seien Romane auf TikTok „nicht immer hohe Literatur“, entgegnete sie dem Vorwurf, dass dort hauptsächlich oberflächliche literarische Inhalte konsumiert werden. Allerdings dürfe lesen „auch Unterhaltung sein“ und viele Leser:innen auf Booktok kämen zum ersten Mal überhaupt mit Büchern in Berührung. „Man wächst ins Lesen rein. Booktok wird sich entwickeln, wird diverser, achtsamer, auch die klassische Belletristik wird Platz finden“, zeigte sich die Booktokerin des Jahres 2024 überzeugt, die mit ihrem Roman Wildest Dreams (Wild-Hearts-Reihe) auf der Spiegel-Bestsellerliste stand.Diese Einschätzung teilt Gerhard Lauer. Der Leseboom auf Social Media habe durch Wattpad begonnen und diese Plattform sei mittlerweile Ort der literarischen Hochkultur: „Hermann Hesse ist ein Topstar auf Wattpad.“ Natürlich fange niemand „mit Hölderlin an“, aber eine „Entwicklung im Lesegeschmack“ sei möglich. Wattpad biete dafür einen guten Zugang, da es dort viele kostenlose Communities gäbe und selbst Bezahlinhalte verhältnismäßig günstig seien.
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