von Stefan Katzenbach
Auf „Die Suche nach der Gegenwart“ machten sich die Schriftsteller:innen Nora Bossong und Stefan Hertmans mit Moderatorin Katharina Borchardt am Donnerstagabend der Leipziger Buchmesse in der Schaubühne Lindenfels und sprachen darüber, wie man der Gegenwart angesichts verschiedener Krisen begegnen könne.
Diese Frage war dann auch gleich der Einstieg in den Abend. Moderatorin Katharina Borchardt wollte von den Schriftsteller: innen Nora Bossong und Stefan Hertmans wissen:
„Was ist schwerer zu verstehen als die Gegenwart angesichts multipler Krisen und was beschäftigt Sie am meisten?“
Nora Bossong fand es „schwierig darauf eine (Hervorhebung d. Red.) Antwort zu finden“, generell sähe sie die „aktuelle Entwicklung mit Sorge“ und nannte dabei den Nahostkonflikt, die Wahl in den USA aber auch die Bedrohung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit von nationalistischen Tendenzen auch in Deutschland. Die Schriftstellerin zeigte sich überzeugt: „Wir haben noch viel zu verteidigen.“
Auch Stefan Hertmans beschäftigen viele Themen. Beispielsweise den zunehmenden Einfluss Russlands und Chinas auf Afrika: „Es gibt eine riesenhafte, unmerkliche Verschiebung, Afrika ist bald unter der Kontrolle von Russland und China“, so der Schriftsteller.
Mit Toleranz und Austausch die Demokratie stärken
Sorgen macht ihm, wie auch Bossong, die zunehmende Bedrohung der Demokratie, die von vielen Seiten in Gefahr gerate, nicht nur von externen Kräften: „Die Demokratie ist hinfällig, der Feind kommt von innen, nicht von außen“.
In Bezug auf die Stabilität der Demokratie habe man sich lange zu sicher gefühlt.
Nora Bossong sah das ähnlich und ging noch einen Schritt weiter: „Wir dachten in unseren naiven Zeiten nicht mal, dass der Feind von innen kommt, sondern waren davon überzeugt, von Freunden umzingelt zu sein.“
Stefan Hertmans plädierte dafür, generell die Dynamik zu sehen, die in gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur in Bezug auf die Demokratie, sondern auch im Sozialen, dem Klima sowie der Demografie läge und diese ernst zu nehmen: „Diese Veränderungen verwirren die Leute, wie erklären wir sie ihnen?“
Eine mögliche Antwort sieht der Belgier in der Lebensart seiner Heimat Flandern, in der sowohl Niederländisch als auch Französisch gesprochen wird: „Wir haben eine Mischform in Flandern, das braucht Toleranz und Austausch.“
Außerdem müsse wieder mehr „lokal“ gedacht werden, allerdings mit einer Einschränkung: „Aber nicht so wie die Rechten, Rechte denken an eine Identität, die es nie gegeben hat.“
„Identität ist ein explosives Wort geworden“
Identität war dann auch das Stichwort für Moderatorin Katharina Borchardt, um Nora Bossong und Stefan Hertmans um ihre Einschätzung der Identitätsdebatte zu bitten, die aktuell eine „Hochzeit“ erlebe.
Ich bin da zwiegespalten“, so Nora Bossong. Einerseits fände sie die Diskussion „nachvollziehbar, aber in radikaler Form zu biologistisch und nihilistisch“. Sie habe „Angst vor der Überformung der eigentlichen Idee.“
In den Augen Stefan Hertmans hat die Debatte eine spannende Entwicklung genommen. Sie sei interessant für die Generation der „Boomer“, zu der er sich auch selbst zählt.
In dieser Generation sei viel über die eigene Identität nachgedacht worden: „Das Ich war damals selbstverständlich“. Identitätsdenken sogar „rechts“ gewesen.
Mittlerweile sei Identität „zurück im linken Diskurs“ und „ein explosives Wort“ geworden.
Das verdeutlichte der 73-Jährige am Beispiel der Debatte über die Übersetzung des Gedichtes, das die US-Amerikanerin Amanda Gorman 2021 bei der Inauguration des aktuellen US-Präsidenten Joe Biden vortrug. Dies sollte die niederländische Übersetzerin und Autorin Marieke Lucas Rijneveld eigentlich ins Niederländische übertragen, tat dies dann aber nicht. Vorausgegangen war öffentliche Kritik daran, dass eine weiße Übersetzerin wie Rijneveld nicht passend sei. Vielmehr solle eine Person of Colour die Übersetzung vornehmen. Für Hertmans eine „falsche Gleichsetzung“, denn:
„Die Übersetzerin soll eine Person of Colour sein unter der Annahme, dass alle People of Colour den gleichen kulturellen Hintergrund hätten, das ist aber falsch.“
Zu wenig Instrumente gegen Fake-News
Ein weiteres großes Thema des Abends war die Digitalisierung im Zusammenhang mit Sprache. Moderatorin Katharina Borchardt wollte wissen, ob es aktuell eine „Krise der Referenzsysteme“ gäbe. Fest machte sie dies daran, dass sich Jugendliche teilweise ganz anders unterhielten und andere Onlineplattformen zur Kommunikation nutzten, als die ältere Generation. Für Nora Bossong ist dies allerdings kein Ausdruck der Krise, sondern schlicht die mediale Entwicklung, in der es „alle 20 Jahre“ eine „Zäsur“ gäbe. Kritisch sieht sie allerdings, dass es nicht ausreichend gesetzliche Regularien gegen Fake-News gäbe und das gesellschaftliche Bewusstsein zur Erkennung dieser noch zu wenig ausgeprägt sei.
Zum Abschluss blieb noch die Frage zu beantworten, welchen Tipp Nora Bossong und Stefan Hertmans zum Umgang mit der Gegenwart hätten? „Denke niemals in Schlagzeilen“, riet Hertmans, stattdessen solle man lieber „viel lesen und schreiben“ und Nora Bossong hielt es in leicht abgewandelter Form mit Kant: „Traue dich, zu schreiben!“