Der Begriff der Moral ist in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten präsent. Wie und mit welchen Folgen er im politischen Diskurs verwendet wird, das wurde am Buchmessen-Donnerstag am Stand des Gastlandes Österreich diskutiert.

Messereport LBM 2023

von Stefan Katzenbach

„Wieviel Moral braucht unsere Gegenwart?“ Diese Frage stellten sich in einer Diskussionsrunde des Gastlandes Österreich am Buchmessen-Donnerstag die Philosophin Lisz Hirn und die Philosophen Robert Pfaller und Konrad Paul Liessmann. Moderiert wurde die Diskussion von der TAZ-Redakteurin Tania Martini. Sie begann die Diskussion mit der Feststellung: „Die Anerkennung der Moral hat gelitten“ und fragte dann, ob der Ruf nach Moral angesichts der aktuellen Weltlage aber dennoch nachvollziehbar sei?

Lisz Hirn sieht nach dem Wegfall religiöser Autoritäten zumindest keine Basis in der Gegenwart mehr, auf die man Moral gründen könne. So sei das, was in der Politik unter Moral verstanden werde, eher eine Schein- und Doppelmoral. Sie machte dies an einem Ausspruch des österreichischen Bundeskanzlers Karl Nehammer fest, der sagte: „Es gibt nur das Gesetz und sonst nichts.“ In der österreichischen Politik spiele Moral keine Rolle, das Strafrecht schon.

Für den österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann ist diese postulierte Krise der Moral aber kein Grund, eine neue Moralphilosophie zu begründen, wie er auf die entsprechende Frage von Tania Martini antwortete. Liessmann schwebt eher eine Moralkritik vor. Ein Problem sei, dass bestimmte gegenwärtige Themen moralisiert würden.

Politisierung der Moral als Instrument

So sei der Klimawandel beispielsweise ein biologisches, kein moralisches Problem und Klimaschutz wäre keine Frage der Moral, sondern basiere auf dem menschlichen Wunsch zu leben. „Wir sind nur moralisch, weil wir egoistisch sind, Warum gibt es kein Bekenntnis zum Wunsch zu überleben?“, fragte Liessmann und forderte: „Es sollte nicht Klima- sondern Menschenschutz heißen. Eine andere Form der Moralisierung sieht er beim Thema Fake-News, diese seien erstmal keinen moralischen Kategorien, sondern anhand der Kriterien wahr/falsch zu bewerten. Erst, wenn sie mit der Intention zu lügen verwendet würden, dann bekämen sie eine problematische moralische Dimension. Die Politisierung der Moral resultiere auch aus der Ablenkung von eigentlichen Interessen der jeweiligen Akteure, wie bspw. Profit. Sie werde auch als politische Strategie benutzt, wie etwa im Terminus der wertegeleiteten Außenpolitik.

Die Gefahr einer solchen Strategie sieht er darin, dass Standpunkte dann nicht mehr reflektiert würden. Schließlich könne man über Werte nur sehr eingeschränkt oder gar nicht diskutieren, anders als es etwa bei Ökonomie der Fall sei. Dadurch drohe die Gefahr der Intoleranz.

Ähnlich sieht das Lisz Hirn, in der Politik werde Moral auch benutzt, um Verantwortung abzuschieben, etwa beim Klimawandel.

Die Konsequenzen einer solchen Verwendungsweise von Moral zeigte Robert Pfaller auf, der darauf verwies, dass Moral keine hemmende Wirkung habe, sie verführe vielmehr zur Enthemmung, in ihrem Namen könne man Kriege führen.

Zementierung sozialer Unterschiede

Einen drohenden Kulturrelativismus, wenn Moral keine absolute Kategorie ist, wie von Moderatorin Tania Martini ins Spiel gebracht, sah er aber nicht. Ein zentraleres Problem sei allerdings die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Dies führe auch zu der Frage, wer Anerkennung bekomme und wer nicht:

„Das Leid der Eliten wird anerkannt, das queerer Menschen auch, das armer Menschen aber nicht. Das ist amoralisch, weil Armut nicht wahrgenommen wird und arme Menschen sich nicht sensibel (z.B. in Bezug auf das Gendern, Anmerk. d. Red.) artikulieren können.“

Konrad Paul Liessmann sah das ähnlich, die aktuellen Debatten rund um Identitätspolitik bspw. würden Betroffenen in der Form, wie sie geführt würden, nicht helfen und dies habe auch mit dem Unterschied zwischen Arm und Reich zu tun:

„Die Moralisierung von Diskursen findet nur in bestimmten Milieus statt, das ist kein Interesse an Verbesserung der Situation, sondern nur an Distinktion.“

Robert Pfaller verwies diesbezüglich auf die Ähnlichkeit zweier Themen, die sich scheinbar widersprechen: „Identitätspolitik und cancel culture lassen Eliten für Minderheiten sprechen, diese werden dadurch privilegiert, Minderheiten werden als nicht autonom angesehen.“ Anerkennung gäbe es erst da, wo das Gegenüber als vernünftiger Mensch anerkannt werde.

Diese Anerkennung habe jedoch auch Grenzen, so Konrad Paul Liessmann: Sie könne zwar in Bezug auf moralisches Handeln sensibel auf die individuelle Situation des Gegenübers reagieren, jedoch die sozialen Unterschiede nicht negieren.

Sensibilität für den Anderen und politische Maßnahmen

Die Debatte um die Identitätspolitik und deren Ziele an sich fand Lisz Hirn nicht falsch, es fehle allerdings die Umsetzung: „Die Agenda der Identitätspolitik ist gut, aber die Politik setzt keine Maßnahmen um.“ Es reiche nicht, nur auf einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel für wirkliche Veränderungen zu hoffen, so die Philosophin, die dies mit einem praktischen Beispiel untermauerte: „Die Einführung des Frauenwahlrechts war kein Bewusstseinswandel, sondern eine praktische Handlung.“

Wie aber kommt man nun zu Handlungsweisen, die das Gegenüber anerkennen? Möglicherweise sei ein erster Schritt ja schon damit getan, sensibel für die Individualität des jeweils anderen zu sein, bspw. im „politisiert sprechen“, schloss Moderatorin Tania Martini die Veranstaltung.