Am Freitag, 21. Oktober 2016 wurde auf der Frankfurter Buchmesse der Deutsche Jugendliteraturpreis in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch verliehen. Der mit 12.000 Euro dotierte Sonderpreis für das Gesamtwerk ging an Klaus Kordon. Die Jugendjury prämierte den Titel Sommer unter schwarzen Flügeln. Darüber hinaus stand die Verleihung im Zeichen des 60. Geburtstages des wohl wichtigsten deutschen Preises für Kinder- und Jugendliteratur.
Die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises sei für ihn die wichtigste Veranstaltung und das Herz der Frankfurter Buchmesse, sagte Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, in seinem Grußwort. Teilen sei zentral für die Buchbranche, in besonderem Maße im Bereich Kinder- und Jugendbuch, so Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Nach der Begrüßung von Dr. Susanne Helene Becker, Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V., und den beiden Grußworten von Boos und Riethmüller wandte sich Dr. Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Vertretung für Bundesministerin Manuela Schwesig, an das nationale und internationale Publikum und verlieh den Deutschen Jugendliteraturpreis in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch. Unterstützt wurde er dabei von der Moderatorin Vivian Perkovic, Redakteurin und Moderatorin des Musikmagazins Tonart am Nachmittag im Deutschlandradio Kultur, und den Gewinnern der Vorlesewettbewerbe in Brandenburg, Hessen und den Niederlanden: Hannah, Luis und Jan Dirk brachten die Umschläge und die begehrten bronzenen Momo-Preisstatuen auf die Bühne.
Freiheit und Selbstbestimmung
Die Kritikerjury wird alle zwei Jahre vom Vorstand des Arbeitskreises für Jugendliteratur gewählt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berufen. Der/die Vorsitzende und die acht Juroren, von denen je zwei Fachleute für die einzelnen Sparten zuständig sind, treffen sich dreimal im Jahr in den Jurysitzungen und sichten die ausgewählten Titel, bestimmen die Nominierungen und wählen die Siegertitel. Dieses Jahr prämierten Birgit Müller-Bardorff (Vorsitzende) und Dr. Felix Giesa, Christine Hauke-Dreesen und Nicole Filbrandt, Prof. Dr. Anita Schilcher und Ulrike Erb-May sowie Dr. Inger Lison, Anke Märk-Bürmann und Carola Pohlmann vier Titel in den genannten Sparten. Die Preise sind mit je 10.000 Euro dotiert.
In der Sparte Bilderbuch wurde Der Hund, den Nino nicht hatte von Edward van de Vendel (Text) und Anton van Hertbruggen (Illustrationen), übersetzt aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, erschienen bei Bohem Press, ausgezeichnet. Nino wünscht sich einen Hund. Da er keinen bekommt, erfindet er sich in seiner Phantasie einen Vierbeiner, mit dem er wilde Abenteuer erlebt. Die Jury hebt hervor, dass dieses Buch „kindliche Wünsche und Träume sichtbar macht. Die vielschichtige und hintergründige Umsetzung lässt verschiedene Deutungen zu.“
Als bestes Kinderbuch konnte sich Das Mädchen Wadjda (cbt) der saudi-arabischen Filmemacherin Hayfa Al Mansour in deutscher Übersetzung von Catrin Fischer durchsetzen. Wadjda ist ein energisches und mutiges Mädchen, das die Regeln und Konventionen der arabischen Welt nicht einfach hinnehmen will. Warum darf ihr bester Freund Fahrrad fahren und sie nicht? „In der literarischen Umsetzung ihres Drehbuches gelingt es der Autorin durch interessante Wechsel der Innen- und Außenperspektive, überzeugend darzustellen, wie man sich in einer Gesellschaft mit strengen Normen eine Nische schaffen kann“, heißt es in der Jurybewertung.
Als bestes Jugendbuch erhielt Mädchenmeute von Kirsten Fuchs, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, den Preis. In ihrem Abenteuerroman begegnen sich die sieben weiblichen Protagonisten bei einem Sommercamp im Erzgebirge. Es geht um Freundschaft, Grusel, die eigene Rolle in der Gruppe und um Freiheit. „Fuchs erzählt ihre Geschichte dramaturgisch geschickt in einer knappen, in Bildern und Konstruktion sehr lebendigen Sprache. Ein großer Reiz des Buches liegt in der unterschiedlichen Charakterisierung der sieben Figuren. Es sind Typen, die jeder kennt, doch arbeitet die Autorin ohne gängige Rollenklischees“, urteilt die Kritikerjury.
Die Graphic Novel Im Eisland. Band 1 (Hinstorff Verlag) gewann in der Sparte Sachbuch. Kristina Gehrmann behandelt hier die Franklin-Expedition 1845, auf der der Seeweg zwischen dem Nordatlantik und dem Nordpazifik gefunden werden sollte. Die Meinung der Jury: „In ihrer ersten Graphic Novel gelingt Kristina Gehrmann eine überzeugende Verbindung aus Sachinformationen und dichter Erzählung. Obwohl der Ausgang der Expedition bekannt ist, wird der Spannungsbogen der Handlung aufrecht erhalten und setzt sich auch in den beiden Folgebänden fort.“
Preisträger der Jugendjury
Die Jugendjury hat mit ihrer Auswahl der Nominierten bereits großes politisches Interesse gezeigt. Wie jedes Jahr haben sich die Jugendlichen eine besondere Vorstellungsart der von ihnen nominierten Titel ausgedacht. Szenisch und musikalisch haben sie die sechs Titel präsentiert. Der Preis der Jugendjury ging am Ende an Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin, ein brandaktuelles Buch über Flüchtlinge, Neonazis und Gewalt. Während Nuri aus Syrien dem Neonazi Calvin von ihrer Heimat und den dortigen politischen Umbrüchen erzählt, bereitet dieser mit seiner Gang einen Angriff auf das Flüchtlingsheim vor. „Verbindend sind Erfahrungen mit Gruppenzugehörigkeit, Ausgrenzung und Gewalt, die sowohl Nuri als auch Calvin zu vielschichtigen Charakteren reifen lassen“, so die Beurteilung der Jugendlichen. Peer Martin hat für dieses Buch gut recherchiert, die einzelnen Kapitel beginnen mit einem provokanten Zitat und enden mit weiterführenden Anregungen zur Internetsuche, „wodurch das Buch über sich selbst hinausweist und zur Reflexion über die aktuelle politische Lage anregt.“
Aufgelockert wurde das Programm durch den kabarettistischen Auftritt der Preisträgerin von 1988 Joke van Leeuwen. 2013 erhielt die Autorin, die auch fürs Fernsehen arbeitet und Theaterstücke verfasst, als erste Autorin den James Krüss Preis für internationale Jugendliteratur. Sie war außerdem bereits für den Hans Christian Andersen-Preis und den Astrid Lindgren-Gedächtnispreis nominiert. Am vergangenen Freitag unterhielt sie die etwa 1.500 Gäste aus dem In- und Ausland mit ihrer humoristischen Darbietung zur niederländisch-flämischen Kultur und Sprache.
Sonderpreis für das Lebenswerk
Die Sonderpreisjury 2016, namentlich Kathrin Buchmann, Irene Hoppe und Regina Pantos (Vorsitzende), ehrte in diesem Jahr den Autor Klaus Kordon für sein Lebenswerk. Klaus Kordon wurde 1943 im Berliner Nordosten geboren. Im zweiten Weltkrieg starb sein Vater, seine Mutter verlor er 1956. Er wuchs in verschiedenen Jugendheimen auf und versuchte sich anschließend in mehreren Berufen, bevor er als Exportkaufmann im Außenhandel der DDR zahlreiche Reisen u.a. nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien führen konnte. Vor allem diese Erfahrungen verarbeitete er später in seinen Kinder- und Jugendromanen. Die geplante Flucht aus der DDR 1972 endete für ihn und seine Frau in politischer Haft. Ein Jahr später wurden sie von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“ und konnten noch ein Jahr später ihre Kinder nachholen. Seit 1980 schreibt Klaus Kordon hauptberuflich. Seine Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und vielfach national und international ausgezeichnet. Zweimal wurde er Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises. Er ist ein Autor mit Eigensinn, ein Querdenker, dessen umfangreiches Werk in enger Verbindung zu seiner eigenen Geschichte steht. In mehr als 90 Kinder- und Jugendbüchern erzählt Klaus Kordon Geschichten für jedes Alter und baut literarische Brücken, macht komplizierte historische Zusammenhänge verständlich und damit deutlich, „wie schwierig der Weg zur Demokratie ist, die ohne Freiheit nicht möglich erscheint“. Gleichzeitig schreibt er über Freundschaft und Liebe, nimmt sein junges Publikum ernst und begleitet sie beim Nachdenken. „Dies gelingt ihm dadurch, dass er eine Sprache findet, die die Leserin und den Leser sowohl neugierig macht auf Fakten, die zum Verständnis historischer Zusammenhänge nötig sind, wie auf die Gefühle der Frauen, Männer und Kinder, deren persönliche Schicksale immer im Mittelpunkt des Geschehens stehen“, so die Jury.
60 Jahre Deutscher Jugendliteraturpreis
Der erste Deutsche Jugendliteraturpreis wurde am 24. April 1956 verliehen. Seitdem zeichnet er kinder- und jugendliterarische Werke aus, die in besonderer Weise herausragen, und zeigt dadurch die große Bandbreite, die auf dem deutschen Buchmarkt zu finden ist. Zu den ausgewählten Werken gehören seit jeher auch internationale Werke, die ins Deutsche übersetzt wurden – es geht eben allein um die literarische Qualität. Gestiftet vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und ausgerichtet vom Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. ist der Deutsche Jugendliteraturpreis mit insgesamt 62.000 Euro dotiert. Er will die Förderung der Kinder- und Jugendliteratur unterstützen, das öffentliche Interesse wach halten und zu Diskussionen anregen. Kinder und Jugendliche sollen durch ein vielfältiges Literaturangebot in ihrer Persönlichkeit gestärkt werden.
Seit 1996 wird den Preisträgern eine der bekanntesten Figuren aus der Kinderliteratur verliehen: Die bronzene Momo, gestaltet von Bildhauer Detlef Kraft. Michael Endes Heldin gehört zu den Unangepassten der Gesellschaft und richtet sich gegen die Kontrolle und den Leistungszwang der „Grauen Herren“. Mit Hilfe der Schildkröte Kassiopeia kann Momo ihre Gegner besiegen und die befreite Zeit, symbolisiert durch die Stundenblumen, zu den Menschen zurückkehren. Michael Endes Plädoyer für freie, unverplante Zeit scheint heute genauso aktuell wie damals.
In den vergangenen sechzig Jahren wurden rund 3.000 Bücher mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis gewürdigt: als Preisbuch, als Nominierte oder innerhalb des Gesamtwerks des Sonderpreises. Dieser umfangreiche und beeindruckende Bücherschatz wurde nun in einer Datenbank unter www.jugendliteratur.org erschlossen und verdeutlicht die Geschichtsentwicklung der Kinderliteratur und Kindheit seit der Nachkriegszeit. Anlässlich des 60-jährigen Bestehens brachte Dr. Stephanie Jentgens im Verlagshaus Jacoby & Stuart eine Anthologie mit neuen Geschichten von nationalen und internationalen Preisträgern unter dem Titel Was ist los vor meiner Tür? heraus. Sie behandeln Themen wie Verschiedenheit, Toleranz und Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Lebensweisen. Zu finden sind u.a. Geschichten von Martin Baltscheit, Kirsten Boie, Inés Garland, Peter Härtling, Susan Kreller, Bart Moeyaert, Mirjam Pressler, Jenny Robson, Andreas Steinhöfel, Tami Shem-Tov, Toon Tellegen und Robert Paul Weston. Übersetzt wurden sie von Brigitte Jakobeit, Matthias Knoll, Angelika Kutsch, Ilse Layer, Mirjam Pressler und Tobias Scheffel, illustriert von Aljoscha Blau.
Gefeiert wird bereits seit Jahresbeginn: Auf der Leipziger Buchmesse 2016 wurden die Nominierten bekanntgegeben, auf der Kinderbuchmesse in Bologna gab es eine Podiumsrunde. Im September präsentierte Bundesministerin Manuela Schwesig die Jubiläumspublikation in Rostock. Höhepunkt der Feierlichkeiten war sicherlich die Preisverleihung auf der Buchmesse in Frankfurt, doch es stehen noch zwei weitere Termine an: Im November findet das Seminar Was ist los vor meiner Tür? Literarische Begegnungen mit dem Anderen in Hamburg statt; im Dezember findet in der Internationalen Jugendbibliothek in München ein internationaler Autorenabend zu 60 Jahren Deutscher Jugendliteraturpreis statt. Martin Baltscheit, Rose Lagercrantz und Iva Procházková werden zu Gast sein.
Von Dominique Schikora