Europas Blick auf die Ukraine: Die Geografie im Kopf verändern
Messereport FBM 2022 zu „Der ARTE Talk“
von Stefan Katzenbach
Neben dem offiziellen Gastland Spanien stand auf der Frankfurter Buchmesse 2022 auch die Ukraine im Fokus. So wurde in einer Diskussionsrunde am Buchmesse-Sonntag beleuchtet, wie sich der Blick westlicher europäischer Länder auf die Ukraine seit dem russischen Angriff bereits verändert hat und wie er sich noch ändern sollte.
Der 24. Februar 2022 markiert den Tag der russischen Invasion in der Ukraine. Ein Ereignis, dass in dieser Form selbst Expert:innen überraschte: „Man guckte wie das Kaninchen auf die Schlange, ein regulärer Krieg war nicht vorstellbar. Selbst Aufklärungsdienste haben nicht geglaubt, dass es zum Krieg in diesem Sinne kommen würde. Dass die Lebensgrundlage eines Staates zerstört wurde“, so der Historiker Karl Schlögel in der Diskussionsrunde „DerARTE Talk: Der Angriff auf Kiew und seine Folgen“. Dieses Erstaunen greife Schlögel auch in seinem Buch „Entscheidung in Kiew“ auf. Darin beschreibe er eine Konferenz, die 2014 stattgefunden habe, und auf der selbst Osteuropa-Expert:innen von der eigenständigen Kultur der Ukraine überrascht seien, so die Moderatorin Shila Behjat (Twitter @shila_behjat). Sie wollte von Schlögel wissen, ob dieses Erstaunen und die Rede davon, dass die Invasion in die Ukraine der erste Krieg in Europa seit 1945 sei, nicht von fortgesetzter Arroganz gegenüber der Ukraine zeugten.
Zu starker Fokus auf Russland
Ein deutliches Ja von Schlögel, der sich selbst von dieser Arroganz nicht ausnimmt. Der ukrainische Widerstand 2014 sei ein „großes Aha-Erlebnis“ für ihn gewesen, er sei zwar bereits 1966 in der Ukraine gewesen, habe das Land aber eher als Durchgangsstation nach Russland gesehen und sich nach 2014 in seinen Studien noch einmal mit der Ukraine beschäftigen müssen. Für Schlögel ist der westliche Blick auf die Ukraine vor dem 24. Februar wesentlich geprägt durch den falschen Glauben an einen einheitlichen Osten: „Wir hatten 1989 die Vorstellung, dass sich alles fügt und die Vorstellung, dass es einen einheitlichen Ostblock gibt. Wir wussten nichts von der Diversität im Osten. Unser Blick war fokussiert auf Russland, wir wussten nicht, dass andere Länder eine eigene Erfahrung haben.“
Diese unterschiedlichen Erfahrungen gelte es nach dem Krieg nun kennenzulernen. Schlögels eindringlicher Appell, um die Situation differenzierter zu betrachten: „Fahrt hin, guckt euch an, was dieses Europa ist.“
„Wir wollen unsere Bilder selbst kreieren“
Auch Julia Boxler, Journalistin und Producerin bei Arte kämpft gegen die Reduzierung des östlichen Europa auf Russland. In ihrer Sendung „Tracks East„, habe sie deswegen den Begriff des „Post-Ost“ eingeführt: „Wir haben den Begriff geprägt und auch in der Wissenschaft etabliert, um eine neue Erzählweise aufzutun und die Sowjetunion in der Erzählung aufzubrechen. Wir wollen Polen und die baltischen Staaten dazudenken, mit all den Geschichten und der Erinnerungskultur.“
Das soll nicht nur den Zuschauer:innen helfen, ein differenzierteres Bild der Länder im Osten zu bekommen, sondern auch die eigene Wahrnehmung der Menschen, die aus diesen Ländern stammen, erweitern. Boxler, die selbst kasachische Wurzeln hat, sagte: „Auch das Selbstbild ist verzerrt, durch die Karten sowjetischer und postsowjetischer Propaganda, von fehlender Aufarbeitung und der Unkenntnis von der Entwicklung in den Ländern.“ So habe sich ihre Familie, die seit langem in Deutschland lebt, gewundert, dass Boxler nach Kasachstan wollte, um die Situation vor Ort kennenzulernen und sich Sorgen gemacht. In ihrer Generation und der noch jüngerer Leute gäbe es aber eine Tendenz dieses Selbstbild zu korrigieren: „Wir wollen unsere Bilder selbst kreieren und unser Nation Building selbst erforschen.“ Dem versuche sie in der Sendung „Tracks East“ eine Darstellung zu geben.
Für Karl Schlögel ist dies der richtige Weg: „Um die Geografie im Kopf zu verändern, gibt es keine bessere Möglichkeit als hinzufahren und zu sehen, wie sehr diese Welt mit uns verbunden ist.“ Es gäbe „keine Moderne in Europa ohne die Geistesgrößen“ der Ukraine, zeigte sich der Historiker überzeugt. Diesbezüglich habe Europa aber noch großen Nachholbedarf: „Wir müssen lernen, und nicht den Leuten im Osten erzählen, was sie noch lernen müssen. Wir müssen nochmal in die Schule gehen und unseren Horizont erweitern. Wir müssen über die Texte nachdenken, nicht über die Autoren.“
„Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“
von Karl Schlögel
Hanser Verlag
304 Seiten I Hardcover I 25,00 Euro
ISBN 978-3-446-24942-4
„Tracks East“
11 Folgen
verfügbar bis März/August 2023
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